Vertretbar, wenn nicht sogar naheliegend

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.11.2018 zur Aufwandspauschale bei sachlich-rechnerischer Richtigkeitsprüfung

Die Auffassung der Krankenhäuser und der sozialrechtlichen Instanzenrechtsprechung ist einfachrechtlich und fachgerichtlich naheliegend – das ist jenes Trostpflaster des Bundesverfassungsgerichts für die vorbenannten Institutionen nach einer langen Reise durch den sozialgerichtlichen Rechtszug nebst verfassungsgerichtlicher Klärung der bundessozialgerichtlichen Rechtsprechung.

Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden jener vor dem Bundessozialgericht unterlegenen Krankenhausträger zum Themenkomplex der Aufwandspauschale bei sachlich-rechnerischer Richtigkeitsprüfung nicht zur Entscheidung angenommen
(1 BvR 318/17; 1474/17; 2207/17).

Dr. jur. Jens-Hendrik Hörmann, LL. M.

Dr. jur. Jens-Hendrik Hörmann, LL. M.

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht

Rechtsanwalt Dr. Hörmann berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.

In einer für einen Nichtannahmebeschluss ungewöhnlich ausführlichen Begründung stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Aufwandspauschale bei sachlich-rechnerischer Richtigkeitsprüfung die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung noch nicht überschreite.

I. Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts

Zunächst erkannte das Bundesverfassungsgericht, dass seitens einiger der als Beschwerdeführer aufgetretenen Krankenhäuser keine zulässige Verfassungsbeschwerde erhoben werden könnte, da diese überwiegend in öffentlicher Hand lägen und daher nicht grundrechtsfähig seien (Rdn. 14 des Beschlusses).

Hinsichtlich der überwiegend oder gänzlich in privater Trägerschaft stehender Krankenhäuser seien die Verfassungsbeschwerden unbegründet.

Zwar gesteht das Bundesverfassungsgericht ein, dass „einfachrechtlich (…) zwar ein anderes Verständnis der maßgeblichen Vorschriften vertretbar, wenn nicht sogar naheliegend sei, dies aber „nicht zur Verfassungswidrigkeit der hier angegriffenen Entscheidungen nach der bis zum 31.12.2015 geltenden Rechtslage“ führe (Rdn.32 des Beschlusses).

Das Bundessozialgericht könne sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auf „nachvollziehbare Anknüpfungspunkte stützen“. So sei die Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit ein „aus dem Vertragsarztrecht bekannte(r) Begriff (…), auch wenn er sich in einem anderen Kontext findet“ (Rdn.37 des Beschlusses).

Zwar habe sich der Gesetzgeber gewichtige Gründe für ein sachlich-rechnerisches Prüfregime an keiner Stelle zu eigen gemacht, jedoch ergebe sich ein „legitimes Interesse der Krankenkassen, die sachlich-rechnerische Richtigkeit von Abrechnungen prüfen zu können (…) aus den Besonderheiten des DRG-Systems.“ Auch wenn es „dabei (…) nicht so sehr um bewusste Falschabrechnungen“ gehe, würden „40 % fehlerhafte Abrechnungen“ den Prüfungsbedarf verdeutlichen (Rdn. 43 des Beschlusses).

Auch sei die zum 01.01.2016 durch den Gesetzgeber vorgenommene Rechtsänderung durch Modifikation des § 275 Abs. 1c S. 4 SGB V „unverkennbar“ darauf ausgerichtet, die streitige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts korrigieren zu wollen, jedoch sei dies „kein Indiz für einen vorher entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers.“ Zudem verweist das Bundesverfassungsgericht explizit auf jenen in den Gesetzesmaterialien niedergelegten Begriff der „Neuregelung“ zum 01.01.2016. Dadurch ergebe sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „ein verfassungsrechtlich akzeptable(s) Wechselspiel(s) von Rechtsprechung und Rechtsetzung“ (Rdn. 49 des Beschlusses).

Daraus schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht: „Die Annahme des Bundessozialgerichts, die Anfügung von Satz 4 an § 275 Abs. 1c SGB V entfalte erst ab 1. Januar 2016 Wirkung und sei nicht als zurückwirkende Klarstellung der ohnehin geltenden Rechtslage anzusehen, verletzt die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung nicht.“ (Rdn.53 des Beschlusses)

Es bestehe in der vorliegenden Situation unter Berücksichtigung der konkret betroffenen professionellen Beteiligten des Gesundheitswesens „ein weiter Spielraum für die richterliche Rechtsfortbildung“, da „schlichte Zahlungsansprüche zwischen juristischen Personen ohne Verknüpfung mit verfassungsrechtlich geschützten Positionen“ betroffen seien und es „nur um die Reichweite eines Steuerungsinstruments, das der Gesetzgeber zwischen beiderseits auf öffentliche Finanzmittel angewiesenen professionellen Akteuren des Gesundheitswesens einsetzt“, ginge (Rdn. 51 des Beschlusses).

II. Fazit

Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die seit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 01.07.2014 streitige Frage, ob eine Verpflichtung der Krankenkassen zur Zahlung einer Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V besteht, nunmehr letztgültig geklärt. Die Krankenkassen haben zumindest in Fällen mit Aufnahmedatum bis zum 31.12.2015 bei reinen sachlich-rechnerischen Prüfungen, also ausschließlichen Kodierprüfungen, keine Aufwandspauschale zu entrichten, sofern sie diese von Beginn an nicht vergütet haben.

Das Bundesverfassungsgericht gibt klar zu verstehen, dass es fachgerichtlich aufgrund des einfachen Gesetzesrechts in § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V naheliegend gewesen wäre, der Auffassung der Krankenhäuser zuzustimmen, wie es die sozialgerichtliche Instanzenrechtsprechung nahezu ausnahmslos vollzogen hat; jedoch sei die anderslautende fachgerichtliche Entscheidung des Bundessozialgerichts dadurch nicht automatisch verfassungswidrig. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, die Auffassung des Bundessozialgerichts sei fachgerichtlich fernliegend, stellt jedoch eine hinreichend deutliche Kritik an der Rechtsprechung des 1. Senats dar.

III. Kritik und Ausblick

Erheblich kritisch zu beurteilen ist an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die unreflektierte Übernahme der Behauptung des Bundessozialgerichts hinsichtlich „40 Prozent fehlerhafter Abrechnungen“ (Rdn. 43 des Beschlusses) sowie die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, die Krankenhäuser als Beschwerdeführer hätten sich „gegen die Durchsetzung einer“ sachlich-rechnerischen Prüfung „wehren können statt sie zu dulden und dann im Anschluss daran die Aufwandspauschale zu liquidieren“ (Rdn. 38 des Beschlusses).

Weder ist die vorbenannte Quote an Falschabrechnungen verifiziert, noch wäre es den Krankenhäusern wegen des behaupteten Einwandes der Mitwirkungspflichtverletzung möglich gewesen, sich gegen eine sachlich-rechnerische Richtigkeitsprüfung zu verwehren, da die Krankenkassen diese weder als solche bezeichnet hatten, noch zum Zeitpunkt einiger Prüfeinleitungen die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum sachlich-rechnerischen Prüfregime bekannt war.

Hinreichend wichtig bleibt darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich für Fälle mit Aufnahmedatum bis zum 31.12.2015 gilt, da auch das Bundesverfassungsgericht die zeitliche Zäsur durch die gesetzgeberische Modifikation zum 01.01.2016 bestätigt. Für alle Fälle mit Aufnahme ab 01.01.2016 ist aufgrund des § 275 Abs. 1c S. 4 SGB V bei jeder Prüfung seitens der Krankenkassen eine Aufwandspauschale zu entrichten, sofern sich der Abrechnungsbetrag durch die MDK/SMD-Prüfung nicht mindert.

Außerordentlich von Bedeutung ist zudem der Hinweis, dass das Bundesverfassungsgericht ausschließlich hinsichtlich der Konstellation von Beginn an nicht gezahlter Aufwandspauschalen eine verfassungsrechtliche Prüfung vorgenommen hat und zu einem für die Krankenhäuser negativen Ergebnis gelangt ist. Gänzlich unberührt davon bleibt die Fallkonstellation, in welcher die Krankenkassen vier Jahre rückwirkend aufgrund der bundessozialgerichtlichen Rechtsprechung vollständig und vorbehaltlos gezahlte Aufwandspauschalen zurückfordern. In dieser rückwirkenden Konstellation kommt es nicht nur auf die o. g. Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts an. Vielmehr stehen § 814 BGB, der Ablauf des vollständigen Geschäftsjahres zum Zeitpunkt der Geltendmachung durch die Krankenkassen, §§ 109 Abs. 5 und 325 SGB V sowie weitere verfassungsrechtliche Fragestellungen zur Zulässigkeit des rückwirkenden Aufgreifens im Streit. All dies war in den vom Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Sachverhalten aufgrund der von Beginn an nicht vergüteten Aufwandspauschalen nicht streitgegenständlich.

Auch nach der Veröffentlichung des Beschlusses durch das Bundesverfassungsgericht urteilen viele Gerichte in der Rückwirkungskonstellation weiterhin zugunsten der Krankenhäuser, da es auf das Prüfregime der sachlich-rechnerischen Richtigkeitsprüfung und dessen zulässige Kreation durch das Bundessozialgericht dabei nicht rechtserheblich ankommt (u.a.: SG Berlin, Urteil vom 18.01.2019 – S 166 KR 535/18; SG Regensburg, Urteile vom 14.02.2019 – S 2 KR 904/16 und S 2 KR 671/17).

Letztendlich zieht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Schlussstrich unter die Fallkonstellation der von Beginn an nicht vergüteten Aufwandspauschalen. Trotz der im Ergebnis negativen Entscheidung, mit welcher aufgrund einer statistischen Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden iHv. konstant knapp 2 Prozent in den letzten Jahren (s. Statistik des Bundesverfassungsgerichts auf dessen Homepage) gerechnet werden durfte, war es nicht zuletzt aufgrund der erheblich abweichenden Instanzenrechtsprechung und der massiven Kritik aus Literatur und Wissenschaft angezeigt, die Fragestellung verfassungsrechtlich klären zu lassen. Gleiches scheint in der vorbenannten Rückwirkungskonstellation notwendig zu werden. Bislang liegt zu dieser Konstellation keine höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor, sodass eine Verfassungsbeschwerde bislang mangels Erschöpfung des Rechtsweges unzulässig war.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Chance vertan, der jahrelangen, tendenziösen Rechtsprechung des 1. Senats am Bundessozialgericht – über die Aufwandspauschalenproblematik hinaus – Einhalt zu gebieten. In dieser Entscheidung wäre es ohne Weiteres rechtlich durchgreifend sowie tatsächlich möglich gewesen – mit Präventionswirkung für andere Bereiche wie etwa § 137c Abs. 3 SGB V oder der DKR 1001 zur Beatmung.

Man ertappt sich bei dem Gedanken an eine Verknüpfung der Tatsachen, dass der Berichterstatter beim Bundesverfassungsgericht vier Tage nach der Entscheidung in den Ruhestand verabschiedet wurde und zum Ende des Jahres der Vorsitzende des 1. Senats am Bundessozialgericht ebenfalls in den Ruhestand treten wird. Wollte man etwa gerade keine Feststellung der unzulässigen richterlichen Rechtsfortbildung eines noch höchstrichterlich tätigen Kollegen treffen? Ein Schelm wer meint, auch dieser Gedanke sei „vertretbar, wenn nicht sogar naheliegend.“.