Paradigmenwechsel bei den Beatmungsstunden?

In der jüngsten Rechtsprechung des BSG zeichnet sich eine Kursänderung zu den Beatmungsstunden ab.

Noch im Dezember 2017 hatte das Bundessozialgericht mit seinen Ausführungen zur anspruchsnotwendigen Gewöhnung für Aufregung und erhebliche Kritik bei den Leistungserbringern gesorgt (B 1 KR 18/17 R – Entscheidung vom 19.12.2017), die auch in den Fachverbänden aufgenommen wurde.

Nach nunmehr nahezu auf den Tag drei Jahren, scheint der 1. Senat des Bundessozialgerichts diese Rechtsprechung zumindest hintergründig relativieren zu wollen.

Sachverhalt

Das Bundessozialgericht hatte über einen Behandlungsfall zu entscheiden, bei dem die Entwöhnung von der Beatmung misslang und die Patientin mit Heimbeatmungsgerät entlassen wurde.

Philipp Schachtschneider

Philipp Schachtschneider

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht

Rechtsanwalt Schachtschneider berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.

Entscheidungsgründe

Zunächst hat das Gericht deutlich gemacht, dass es an seiner Rechtsprechung vom 17.12.2019 (B 1 KR 19/19 R) ausdrücklich festhalte und die DKR 1001l gerade keine Regelung dahingehend enthalte, dass Spontanatmungsstunden nur im Rahmen erfolgreicher Entwöhnungen berücksichtigungsfähig seien. Ein Entwöhnungserfolg bzw. eine Entwöhnung „auf 0“ sei nicht Voraussetzung, um die vorangegangenen Spontanatmungszeiten erfassen zu können. Dies ist auch systemgerecht.

Interessant sind sodann die Ausführungen zu den beatmungsfreien Intervallen:

Der Senat bekräftigt zunächst seine vorangegangene Rechtsprechung, welche beim Einsatz einer Methode der Entwöhnung eine zuvor eingetretene Gewöhnung an die maschinelle Beatmung voraussetzt (BSG Urteil vom 19.12.2017 – B 1 KR 18/17 R). Der Senat hatte seinerzeit die „Gewöhnung“ im Sinne der DKR 1001l in seinem Urteil vom 19.12.2017 definiert als: „die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können“.

Der Senat hat – sowohl in der mündlichen Verhandlung als auch in der Pressemitteilung –überraschend geäußert, dass weitere Voraussetzungen für eine Gewöhnung ausdrücklich nicht erforderlich seien. Insbesondere könne eine Gewöhnung darauf beruhen, „dass nach dem Beginn der maschinellen Beatmung die Unfähigkeit zur Spontanatmung bereits aufgrund der behandelten Erkrankung oder erst durch eine Schwächung der Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung oder durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren eintritt.“.

Interessant an diesen Ausführungen ist, dass das Bundessozialgericht nunmehr keine (künstliche) Differenzierung mehr zwischen der Unfähigkeit zur Spontanatmung aufgrund der (Grund-) Erkrankung und der Schwächung der Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung vornimmt, welche noch in der Entscheidung vom 19.12.2017 (B 1 KR 18/17 R) ausdrücklich benannt waren und dafür gesorgt hatten, dass in unzähligen Fällen beatmungsfreie Intervalle nicht anrechenbar waren.

Damit relativiert das Bundessozialgericht ausdrücklich die hohen Anforderungen, welche bis dahin an die Gewöhnung zu stellen waren.

Der Senat hält zwar klar erkennbar und deutlich daran fest, dass für die Berechnung der beatmungsfreien Intervalle i.S.d. DKR 1001I eine Gewöhnung abrechnungsrelevante Voraussetzung ist. Die klarere Begriffsbestimmung der vielfach nicht nur juristisch, sondern auch medizinisch kritisierten Definition zur Gewöhnung ist allerdings sehr zu begrüßen und dürfte vielen Altfällen zuträglich sein.

Abzuwarten sind letztlich die schriftlichen Urteilsgründe, welche Stand 08.02.2021 noch nicht vorlagen.

Aussicht

Gleichsam interessant dürfte auch das Verfahren B 1 KR 35/20 R sein, mit welchem eine abschließende Klärung dieses Komplexes durch das Bundessozialgericht einhergehen dürfte. Dabei handelt es sich um das Verfahren, welches am 19.12.2017 (B 1 KR 18/17 R – Grundsatzentscheidung zur Entwöhnung/Gewöhnung) entschieden wurde und sich nach Rückverweisung nun erneut in der Revision beim Bundessozialgericht befindet. Daneben sind zwei weitere Revisionen zu dieser Thematik anhängig: B 1 KR 41/20 R sowie B 1 KR 26/20 R, welche in zweiter Instanz jeweils zugunsten des Krankenhauses und entgegen der Rechtsprechung vom 19.12.2017 endeten.

Auch auf die Dauer einer vorangegangenen Beatmungsphase dürfte es unter den Ausführungen des Bundessozialgerichts nicht mehr ankommen. Dazu passend hat sich der Bundesschlichtungsausschuss der Kodierempfehlung Nr. 584 gewidmet, welche für die Gewöhnung eine vorherige durchgehende Beatmung für mindestens 48 Stunden forderte. Der Schlichtungsausschuss hat nunmehr festgestellt, dass die Kodierichtlinie derartige Voraussetzungen nicht enthält und die Anrechnung der intermittierenden Phasen von Beatmung und Spontanatmung keine Mindestbeatmungsdauer von 48 Stunden erfordern.