Kostenlose Hausbesuche als Wettbewerbsverstoß – LG Berlin bestätigt Pflicht zur Gebührenerhebung nach GOT 2022
LG Berlin II, Urteil vom 14. Mai 2024 – 103 O 51/23
Mit Urteil vom 14. Mai 2024 – 103 O 51/23 – hat das Landgericht Berlin klargestellt, dass Tierärztinnen und Tierärzte sowie juristische Personen, die tierärztliche Leistungen anbieten, verpflichtet sind, bei Hausbesuchen die in der neuen Gebührenordnung für Tierärzte (GOT 2022) vorgesehenen Anfahrtskosten und die Hausbesuchsgebühr zu erheben. Ein genereller Verzicht auf diese Gebühren stellt einen wettbewerbsrechtlich relevanten Verstoß gegen Marktverhaltensregelungen dar und kann mit Unterlassungsansprüchen sanktioniert werden.

Melanie Tewes
Fachanwältin für Medizinrecht
Rechtsanwältin Tewes berät und vertritt Vertragsärzte, Krankenhäuser und andere Leistungserbringer in medizinrechtlichen, vorwiegend vertragsärztlichen Angelegenheiten (Ambulanzen, Ermächtigungen).
Hintergrund: Gebührenpflicht bei Hausbesuchen
Eine Hausbesuchsgebühr als eigenständige Position existierte in der alten Fassung der GOT nicht. Es war vor 2022 nicht vorgesehen, neben der eigentlichen Leistung (z. B. Untersuchung, Behandlung, Impfung etc.) noch einen Zuschlag allein dafür zu erheben, dass die Leistung im Rahmen eines Hausbesuchs erfolgte. Zwar konnten damit verbundene Mehraufwände über andere Zuschläge oder den Steigerungssatz berücksichtigt werden, aber eine pauschale Hausbesuchsgebühr war nicht geregelt.
Seit der umfassenden Reform der GOT im Jahr 2022 sind Tierärztinnen und Tierärzte jedoch grundsätzlich verpflichtet, bei Hausbesuchen sowohl die Wegstreckenentschädigung (§ 10 Abs. 1 GOT 2022) als auch eine zusätzliche Hausbesuchsgebühr (lfd. Nr. 40 des Gebührenverzeichnisses) zu berechnen. Ausnahmen bestehen nur in engen Grenzen (§ 10 Abs. 4 i. V. m. § 5 Abs. 1 GOT 2022) und bedürfen einer Begründung im Einzelfall.
Der Fall: Strukturierter Verzicht auf Gebühren durch Anbieter mobiler Tierärzte
Die beklagte Gesellschaft betreibt über diverse Tochterunternehmen ein Netzwerk mobiler Tierärztinnen und Tierärzte, die ausschließlich Hausbesuche zur Behandlung von Hunden und Katzen anbieten. Die Beklagte warb unter anderem mit Aussagen wie „Anfahrt ab 0 €“ oder „kostenlose Anfahrt zwischen 10 und 18 Uhr“ und stellte in mehreren dokumentierten Fällen keine Hausbesuchsgebühr in Rechnung.
Ein Wettbewerbsverband, dem u. a. die Bundestierärztekammer und mehrere Landeskammern angehören, mahnte die Beklagte erfolglos ab und erhob schließlich Klage auf Unterlassung und Kostenerstattung. Er argumentierte, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Gebühren dem Schutz eines funktionierenden Preisgefüges im tierärztlichen Markt dienen und die beworbene Kostenfreiheit einen unlauteren Wettbewerbsvorteil verschaffe.
Die Entscheidung: Klage vollständig erfolgreich
- Pflicht zur Gebührenerhebung: Die Beklagte unterliegt als juristische Person der GOT, da sie vertraglich gegenüber den Tierhaltern auftritt (§ 1 Abs. 1 GOT 2022). Dass die Leistungen von angestellten Tierärzten erbracht werden, ändere daran nichts. Eine juristische Person kann tierärztliche Leistungen nur durch natürliche Personen erbringen lassen, bleibt aber Adressatin der Gebührenpflicht.
- Wettbewerbsverstoß: Die Nichterhebung von Gebühren führt zu einem relevanten Preisvorteil gegenüber stationären Praxen und stellt eine spürbare Wettbewerbsverzerrung dar. Die Argumentation der Beklagten, es bestehe kein echter Wettbewerb zwischen mobilen und stationären Praxen, überzeugte das Gericht nicht. Beide Gruppen konkurrierten um dieselbe Zielgruppe – Tierhalter.
- Keine Verfassungswidrigkeit: Zwar erkannte das Gericht, dass die verpflichtende Erhebung sowohl von Anfahrtskosten als auch einer Hausbesuchsgebühr Anbieter rein mobiler Leistungen wirtschaftlich besonders trifft. Jedoch fehle es an der erforderlichen Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der GOT-Regelung, weshalb keine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erfolgte (Art. 100 Abs. 1 GG).
Bedeutung für die Praxis
Das Urteil unterstreicht die Bindungswirkung der neuen GOT-Vorgaben und stellt klar, dass ein struktureller oder pauschaler Verzicht auf gesetzlich normierte Gebühren nicht nur berufsrechtlich problematisch sein, sondern auch wettbewerbsrechtlich geahndet werden kann. Praxen und tierärztliche Organisationen sollten ihre Abrechnungspraxis überprüfen, um rechtssichere Gestaltung sicherzustellen.
Ausblick
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Berufung ist beim Kammergericht Berlin – 5 U 31/24 – anhängig. Es bleibt abzuwarten, ob die dortige Instanz die verfassungsrechtlichen Bedenken stärker gewichtet oder die Linie des Landgerichts bestätigt.