Aktuelle Rechtsprechung des LSG Hamburg vom 16.12.2021, Az. L1 KR 9/21

Seitens der gesetzlichen Krankenkassen wird die Durchführung der obligatorischen Anschlussversicherung nach § 188 Abs. 4 SGB V häufig mit der Begründung abgelehnt, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt des Versicherten im Inland nicht mehr feststellbar sei. Das LSG Hamburg hat nunmehr die Anforderungen an die Ermittlungstätigkeiten der Kassen präzisiert.

Gegenstand des Rechtsstreits war eine notfallmäßige stationäre Behandlung vom 07.05.2019 bis 16.05.2019 im Hause der Klägerin. Aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld II war der Patient bis zum 31.07.2018 bei der beklagten Krankenkasse versichert gewesen. Mit Bescheid vom 15.11.2018 hatte diese dem Patienten gegenüber die freiwillige Mitgliedschaft ab dem 01.08.2018 nach § 188 Absatz 4 SGB V festgestellt. Eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall ab diesem Zeitpunkt lag nicht vor. Nach Rechnungslegung der Klägerin teilte die Beklagte mit, dass die Kostenzusage zurückgenommen werden müsse, dabei bezog sie sich u.a. auf § 323 Abs. 2 SGB V a.F. und § 191 Nr. 4 SGB V.

Ulrike Hildebrand

Ulrike Hildebrand

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Medizinrecht

Rechtsanwältin Hildebrand berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren, außerdem berät sie Leistungserbringer zur Kostensicherung.

Das Sozialgericht Hamburg verurteilte die Beklagte zur Zahlung. Das LSG Hamburg bestätigte diese Entscheidung. Der Patient sei im strittigen Behandlungszeitraum bei der Beklagten gemäß § 188 Abs. 4 SGB V krankenversichert gewesen. Das Zustandekommen der obligatorischen Anschlussversicherung scheitere auch nicht an § 188 Abs. 4 S. 4 SGB V.

Diese Vorschrift setzt für die Beendigung der freiwilligen Versicherung voraus, dass die Krankenkasse trotz Ausschöpfung der ihr zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten weder den Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt des Mitglieds im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches ermitteln kann. Für die dafür nötige Ermittlungstätigkeit der Krankenkasse wurde in § 188 Abs. 5 SGB V dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen eine Regelungskompetenz eingeräumt, diese ist durch die „einheitlichen Grundsätze zu den Ermittlungspflichten der Krankenkassen“ ausgeführt worden. Dort werden einzelne Ermittlungsmöglichkeiten benannt, u.a. der Versuch der Kontaktaufnahme mit dem Mitglied per Telefon oder per Email. Ferner werden Indizien für das Fehlen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes genannt, z.B. der Unzustellbarkeitsvermerk auf Briefsendungen.

Derartige Indizien lägen, so das LSG, zwar auch im streitgegenständlichen Fall vor. Dies verwundere nicht, denn obdachlosen Menschen fehle es gerade an einem festen Wohnsitz mit postalischer Erreichbarkeit, Telefon- und Internetanschluss. Die Ermittlungsbemühungen der Krankenkasse seien jedoch nicht ausreichend gewesen bzw. die Schlussfolgerungen daraus seien unzutreffend. Denn die Ermittlungen seien nicht schematisch nach den Vorgaben der einheitlichen Grundsätze abzuarbeiten, sondern hätten umfassend der Erkenntnis zu dienen, ob der Versicherte sich (noch) im Inland aufhalte. Gerade die Ergebnisse der an bürgerlichen Lebensverhältnissen orientierten, schematischen Methoden der Aufenthaltsermittlung liefen bei Wohnungslosen ins Leere. Die Regelung des § 188 Abs. 4 S. 4 i. V. m. Absatz 5 SGB V sei daher so auszulegen, wie der Gesetzgeber sie intendiert habe. Sprächen die Gesamtumstände gegen einen Auslandsaufenthalt, dann seien die Ermittlungen im Sinne der einheitlichen Grundsätze nicht geeignet, den erforderlichen Nachweis zu führen.

Anhaltspunkte für einen Auslandsaufenthalt habe es hier nicht gegeben. Im Gegenteil, der Versicherte habe sich sogar um seine postalische Erreichbarkeit bemüht, indem er mangels festen Wohnsitzes die Postadresse der Sozialdienststelle „S“ angegeben habe, von der er regelmäßig betreut wurde. Für die Richtigkeit dieser Annahme spreche auch, dass die Briefsendungen der Beklagten ausweislich der Verwaltungsakte nicht retourniert worden seien.

Auch die von der Beklagten zur Begründung ihrer Entscheidung herangezogenen Regelungen des § 191 Nr. 4 SGB V und § 323 Abs. 2 SGB V a.F. könnten nicht verfangen. § 191 Nr. 4 SGB V setze eine bereits entstandene freiwillige Versicherung voraus; die Vorschrift habe Fallgestaltungen im Blick, in denen die freiwillige Versicherung zunächst tatsächlich „gelebt“ wurde und erst später der Kontakt abgebrochen sei. Die Vorschrift des § 323 Abs. 2 SGB V i.d.F. vom 11.11.2018 (heute: § 408 SGB V) enthalte keinen eigenen gegenüber dem Mitglied wirksam werdenden Aufhebungsgrund. Zweck der Regelung sei es, infolge der Neuregelungen des GKV-VEG, den Bestand an passiven Mitgliedschaften, die im Wege der obligatorischen Anschlussversicherung entstanden seien, zu bereinigen und insbesondere die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds den real lebenden Mitgliedschaften der jeweiligen Krankenkasse anzupassen. Dass hierdurch eine Aufweichung der Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft nach § 188 Abs. 4 SGB V intendiert gewesen sei, sei weder der Norm selbst noch ihrer Gesetzesbegründung zu entnehmen.

Die Entscheidung erteilt damit häufig vorkommenden Einwendungen der Krankenkassen hinsichtlich der obligatorischen Anschlussversicherung eine Absage und dürfte in der täglichen Fallpraxis für mehr Rechtssicherheit sorgen.